Todesmärsche und Lynchmorde: Österreichs düsteres Kapitel am Ende des Zweiten Weltkriegs

Todesmarsch jüdischer Ungarn durch den steirischen Ort Hieflau im April 1945
Vor zehn Jahren hat sich der Historiker Georg Hoffmann durch US-Unterlagen gegraben. Ziel war es, mehr über die Flieger-Lynchjustiz an alliierten Flugzeugbesatzungen in den letzten Kriegswochen herauszufinden. Tatsächlich stellte der heutige Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums (HGM) fest, dass am 22. März 1945 fünf US-Bomber abgeschossen wurden. 31 Piloten glitten mit Fallschirmen zu Boden, wurden durch Wien getrieben und fielen der Lynchjustiz zum Opfer.
Nur eines von unzähligen Endphaseverbrechen, die 2015 in der Ausstellung „41 Tage. Kriegsende 1945 – Verdichtung der Gewalt“ erstmals umfassend thematisiert wurden. In mehr als 100 Orten in Österreich konnten die Historiker Verbrechen nachweisen. Gerade in den letzten Tagen des Krieges kam es zu einer Verdichtung der Gewalt – mit Todesmärschen, Menschen-Treibjagden und Lynchmorden.
Durchhalteparolen
„Endphaseverbrechen“ ist der Name dieses relativ neuen Forschungszweigs der Geschichtswissenschaft. Dabei handelt es sich um eine ganz spezifische Verbrechensart mit einer eigenen Logik, die vom Heranrücken der Front geprägt ist. Das kollabierende Regime fühlte sich vor neue Herausforderungen gestellt.
Der Krieg im Inneren erreichte eine ungeahnte Dimension. Je weiter die Alliierten vorrückten, desto fanatischer die Durchhalteparolen und grausamer der Terror. Die Politik der verbrannten Erde wurde von ganz oben verordnet. Hitlers Nero-Befehl lautete: Wenn schon untergehen, dann so blutig wie möglich, den Feinden nur ja keine Infrastruktur lassen. Politische Gegner und Widerstandskämpfer wurden gezielt ermordet, damit sie nicht beim Wiederaufbau des Staates helfen können. „Historiker setzen sich erst etwa seit 25 Jahren mit dem Phänomen der Endphaseverbrechen auseinander“, sagt Johannes Feichtinger von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).
„Das hängt damit zusammen, dass das Jahr 1945 in der österreichischen Erinnerungskultur lange Zeit eine Leerstelle war. Für die einen war es das Jahr der Befreiung, für die anderen das Jahr der Besetzung.“ Man habe sich schwergetan, für diese Zeit einen gemeinsamen Nenner zu finden. „Daher hat man sich auf das Jahr 1955 fokussiert, das für alle Beteiligten unproblematisch war.“
Tabu
Somit werde das Kriegsende nach wie vor stark tabuisiert, „weil es die Menschen unmittelbar betroffen hat und eine Schuldfrage damit in Verbindung steht“, ergänzt Historiker Hoffmann. „Die Todesmärsche wurden gesehen und dokumentiert. Sie waren der Holocaust vor der Haustüre. Der findet nicht mehr in Lagern statt, sondern verlagert sich in die Dörfer und auf die Straßen – mitten in die Gesellschaft. Und er richtet sich gegen alle, die in diesem Endkampf als Feinde oder Verräter definiert werden.“
NS-Spezifikum
Da sei noch viel aufzuarbeiten, sagt der HGM-Direktor, der sich gerade auf einer Konferenz in seinem Haus intensiv mit dem Phänomen beschäftigt hat. Hoffmann: „Endphaseverbrechen waren tatsächlich ein NS-Spezifikum. Das Motto lautete: Der Nationalsozialismus siegt oder die Welt geht unter.“ Die darunterliegende psychologische Komponente – was Menschen dazu treibt, zu Mördern zu werden – wird in der Forschung heftig diskutiert.
Fest steht, dass im Frühling vor 80 Jahren Zigtausende Menschen auf Todesmärschen durch Österreich ermordet wurden – nicht von externen, sondern von lokalen Tätern. Historiker Johannes Feichtiger abschließend: „Damit bekamen sowohl Opfer als auch Täter plötzlich ein Gesicht und die Schrecken des Krieges wurden auf dem eigenen Territorium offenbar“.
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