Zwischen Selfies und Hashtags: Kriegsgedenken auf Social Media

Eine junge Frau steht vor den Toren eines Konzentrationslagers und macht ein Selfie
Wie hat sich die Erinnerungskultur in Zeiten von Social Media gewandelt? Ausgangslage, Schattenseiten und Prestige-Beispiele.

Jehuda Schwarzbaum war 13 Jahre alt, als er im Oktober 1943 zusammen mit seinem Vater vor den Toren des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau stand und kurz darauf SS-Lagerarzt Josef Mengele in die Augen blickte. 

"Mengele hat mich gefragt: 'Wie alt bist du?' Und ich antwortete '18', obwohl ich 13 war. 'Beruf?', fragte er. Ich sagte: 'Elektriker'".

Schwarzbaum überlebte den Holocaust, verstarb jedoch 2011. Seine bewegende Geschichte erzählte er 1998 in einem Interview für die Dokumentation „Survivors of the Shoah“. Dieses und ähnliche Zeitzeugen-Videos wurden jahrzehntelang mithilfe verstaubter Kassettenrekorder in den Klassenzimmern zur Vergangenheitsbewältigung gezeigt. Ein Großteil des Materials verschafft sich heute aber nur noch über soziale Plattformen Gehör – vor allem bei jungen Menschen. 

Allein auf Instagram sind unter dem Hashtag #zweiterweltkrieg über 44.000 Beiträge verzeichnet. Das Schlagwort #holocaust umfasst beinahe eine Million Posts – bestehend aus Bildern, Videos und persönlichen Geschichten.

Ausgangslage bei Jungen schwierig

80 Jahre nach Kriegsende ist das Erinnern wichtiger denn je. Denn Zeitzeugen gibt es bald nicht mehr. Und, obwohl Gedenkveranstaltungen und Bildungsinitiativen weiterhin einen bedeutenden Beitrag leisten, wandern Erinnerungen zunehmend in digitale Räume. Doch was können Soziale Medien wirklich an Aufarbeitungsarbeit leisten? Die Ausgangslage ist derzeit nämlich nicht gerade die beste. Eine aktuelle Studie der Anti-Defamation League in New York weist weltweit auf Wissenslücken und auch auf Leugnung des Holocausts hin. 

Besorgniserregend ist vor allem der Anstieg antisemitischer Tendenzen unter jungen Menschen und die Zunahme von Falschinformationen im Netz. 

Verschwörungstheorien und Fake News

Vor allem in Zeiten von Künstlicher Intelligenz wird es immer schwieriger herauszufinden, welche der Aufnahmen „wirklich“ echt sind. Dies erhöht auch das Risiko, dass User Verschwörungstheorien zum Opfer fallen. So findet man in Bezug auf den Holocaust unzählige Postings, die diesen abstreiten. Laut der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wird in einer bekannten Verschwörungstheorie die Vernichtung von sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs abgestritten. Auch die Existenz von Gaskammern und die Echtheit von Zeitzeugenberichten wird angezweifelt. 

Warum glaubt man hier an ein Komplott, obwohl es doch so viele historische Beweise gibt?

Die US-Studie The Role of Social Media in the Spread of Conspiracy Theories hat 2021 eine zentrale Erkenntnis dazu geliefert. Demnach fördern Soziale Medien durch algorithmische Personalisierung sogenannte Filterblasen, in denen Nutzer hauptsächlich mit gleichgesinnten Meinungen und Inhalten in Kontakt kommen. Dies begünstigt die Radikalisierung von Überzeugungen und reduziert die Wahrscheinlichkeit, dass Fehlinformationen hinterfragt werden. Auch ein Überlegenheitsgefühl gegenüber „der Masse“ wird in diesen Blasen als gefährliche Dynamik genutzt.

Selfies inmitten der Häftlingsbaracken in Auschwitz

Verschwörungstheorien und Fake News haben natürlich auch Auswirkungen auf das eigene Verhalten. Darüber hinaus steigert die ständige Verfügbarkeit von negativen Informationen nachweislich die Desensibilisierung für Tragödien oder wichtige Gedenkstätten. So wurde in der Vergangenheit immer wieder von unangemessenen Aktionen berichtet: Besucher des Konzentrationslagers Auschwitz balancierten etwa auf den Gleisen des ehemaligen Todeslagers und fotografierten sich dabei, oder turnten auf dem Holocaust-Mahnmal in Berlin herum. 

2014 ging auch das Selfie einer US-Amerikanerin im Netz viral. Sie zeigte sich lächelnd inmitten der Häftlingsbaracke. Sie erntete dafür Beleidigungen sowie Morddrohungen. 

Zwischen Selfies und Hashtags: Kriegsgedenken auf Social Media

Menschen sitzen auf dem Holocaust-Mahnmal in Berlin.

Zwischen dem unreflektierten Hochladen von Bildmaterial und Social Media als Aufarbeitungskulisse liegen sichtlich Welten. Wer die Jugend also dazu anhalten möchte, ernste Themen wie den Holocaust sowie NS-Gräueltaten als solche wahrzunehmen und bestenfalls einen pädagogischen Effekt erzielen möchte, sollte mit Struktur, Kreativität und Kontext vorgehen. Das zeigen zumindest diese Prestigeprojekte im Netz.

"Bewegend und authentisch"

"Ich nehme mir die Holocaust-Thematik vor allem dann zu Herzen, wenn die Inhalte gut gemacht, bewegend und authentisch sind", erzählt die 17-jährige Sarah gegenüber dem KURIER. Dazu verweist sie auf den TikTok-Account von Gidon Lev, einer der wenigen, der als Kind die das tschechische KZ Theresienstadt überlebte. Über dessen Profil stolperte Sarah rein zufällig, heute gehört es zu ihren Lieblingsaccounts. Auf TikTok postet der heute 90-Jährige fast täglich Geschichten aus Kindheitstagen im KZ und appelliert an Jugendliche „nicht denselben Weg von damals einzuschlagen und mutig zu bleiben“. Knapp eine halbe Million Menschen folgen Lev auf TikTok. 

Instagram-Profil eva.stories erhielt viel Lob von Jungen.

Das Instagram-Profil eva.stories erhielt viel Lob von Jungen.

Instagram-Storys mit Tiefgang

Ein anderer Instagram-Account toppt die Anzahl der Follower sogar noch um einiges: Eva.stories verzeichnet eine Million Abonnenten und wurde von dem israelischen Unternehmer Matti Kochavi 2019 ins Leben gerufen. Dieser stellte sich die Frage: „Was, wenn ein Mädchen im Holocaust Instagram gehabt hätte?" und rückt im Zuge der Beantwortung das Leben der 13-jährigen Jüdin Eva Heyman in dem Mittelpunkt. Basierend auf ihren Tagebüchern rekonstruierte er auf Instagram das Leben der Ungarin, welche 1944 im KZ Auschwitz ermordet wurde. 

Lob erhielt das Projekt vor allem von jungen Menschen. „Ich bin froh, dass ich als junge Generation die Geschichte hier nochmals miterleben darf“, so eine Nutzerin. 

Österreichische Historiker auf Social Media

Doch nicht nur internationale Initiativen zeigen, wie Aufarbeitung auf Social Media funktionieren kann. Auch heimische Projekte leisten einen Beitrag. Auf der österreichischen Plattform „wasbishergeschah“ etwa beleuchten Historiker persönliche Shoah-Geschichten und untermauern diese mit wissenschaftlichen Fakten. Das besonders Schöne daran: „Das Interesse der jungen Community an der Thematik ist groß – auch das Mitgefühl“, schildert Benjamin Schlöglhofer, Journalist und Experte für Zeitgeschichte, gegenüber dem KURIER. Laut Schlögelhofer sei es besonders wichtig, genügend Kontext zu liefern, indem man beispielsweise auch die Bildunterschrift nutzt und wissenschaftliche Quellen angibt. "Social Media ist eine Chance! Und wir setzen alles daran, sie zu nützen.“

Kommentare