Gedenken an Ende des 2. Weltkriegs: "Zu viele haben zu- und weggeschaut!"

Musikalisch eingeleitet von den Wiener Philharmonikern beginnt Hannah Lessing das Gedenken im Bundeskanzleramt an diesem 8. Mai 2025. Nur mehr wenige Menschen sind noch am Leben, die den "Übergang von der Diktatur in die Demokratie miterlebten", so Lessing, Generalsekretärin des Nationalfonds.
Es sei "schier unmöglich, passende Worte zu finden für die unsäglichen Gewaltverbrechen, für die Gräuel und Unmenschlichkeit der NS-Herrschaft", betont Christian Stocker in seiner anschließenden Rede. Die über 65.000 österreichischen Jüdinnen und Juden, die ermordet wurden, würden nie vergessen werden, wie die dunklen Jahre der Geschichte.

Christian Stocker
Doch auch "die gefallenen Soldaten sind Teil der unserer Geschichte, und es ist unsere Pflicht, die Geschichte in all ihrer Widersprüchlichkeit anzunehmen. Es geht dabei nicht darum Schuld zu relativieren, nein. Aber wir müssen das gesamte Ausmaß der Verbrechen begreifen, die im Namen des Nationalsozialismus begangen worden sind."
Aus der Erinnerung erwachse Verantwortung, setzt der Bundeskanzler fort. Lange Zeit, " ja viel zu lange Zeit, hat sich Österreich ausschließlich als Opfer der Nationalsozialisten gesehen. Viel zu lange wollten wir nicht sehen, was unübersehbar war: Denn viel zu viele standen im März 1938 jubelnd am Heldenplatz." Viel zu viele hätten "zugeschaut, weggeschaut und auch mitgemacht, als ihre Mitmenschen erniedrigt, vertrieben und ermordet wurden. Aber unsere Republik, wir haben – wenn auch sehr spät – daraus gelernt."
Im Beisein der Bundesregierung, des ersten Nationalratspräsidenten Walter Rosenkranz (FPÖ), seinem Vorgänger Wolfgang Sobotka (ÖVP), der Dritten Nationalratspräsidentin Doris Bures (SPÖ), dem ehemaligen Außen- und Bundeskanzler Alexander Schallenberg, Ex-SPÖ-Chefs und Bundeskanzler Alfred Gusenbauer und Franz Vranitzky, Vertretern der Religionsgemeinschaften wie IKG-Präsident Oskar Deutsch will der ÖVP-Chef und Bundeskanzler das heutige Gedenken als Appell für die Gegenwart verstanden wissen.

Andreas Babler
"Akzeptieren wir niemals Intoleranz, egal in welcher Gestalt sie sich zeigt." Und: "Nehmen wir unsere Verantwortung wahr und die Herausforderungen der Gegenwart an. Hüten und verteidigen wir unsere demokratische Republik wie einen Schatz, der uns anvertraut wurde. Stehen wir füreinander ein und stärken wir, was uns verbindet."
"Das Unmenschliche in der Welt", "die Bestie im Menschen"
Vizekanzler Andreas Babler weist anschließend eindrücklich und mehrfach auf die "Zeit, die das Schlechteste aus dem Menschen herausgeholt hat" hin. Wie schnell das "Monster, die Bestie" erstarkt, das "Unmenschliche in der Welt sich breit macht". Nie wieder dürfe man sich über andere erheben, nie wieder "dürfen wir uns spalten lassen. Wir dürfen keinen Zentimeter nachgeben und müssen auch auf den sozialen Ausgleich achten", so der SPÖ-Chef, der in seiner Rede den Bogen in die Jetzt-Zeit spannt und auf die Budgetlage verweist.

Als dritter Redner der türkis-rot-pinken Bundesregierung ist Bildungsminister Christoph Wiederkehr (Neos) am Wort. Für ihn ist "Bildung der zentrale Bestandteil des Nie wieder". Es liege insbesondere in der Verantwortung der Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen, die Erinnerungskultur hochzuhalten und weiterzugeben - Zeitzeugen in Interaktion mit Schülerinnen und Schüler treten zu lassen, solange dies noch möglich. "Bildung ist das wichtigste Gegengift zu Antisemitismus", so Wiederkehr.
Die historische Sicht auf die Gräuel und Geschehnisse vor 80 Jahren bringt Arnold Suppan dar. Der Historiker spricht erst die blanken Zahlen an - die 400.000 toten Österreicherinnen und Österreicher an, die Zahl der Vertriebenen, Kriegsinvaliden, Witwen, Versehrten - dann über den Umgang mit ihnen, den Beginn der II. Republik und die Errungenschaften, die sie mit sich brachte wie die im Parlament vertretenen Parteien, das Entstehen der Sozialpartnerschaft, das Profitieren vom Marshall-Plan, das Prosperieren der Wirtschaft in Österreich.

Gen Ende kommt Suppan auf die Neutralität Österreichs zu sprechen und auf die Verantwortung des Landes, der man sich Jahrzehntelang nicht stellte, ehe es 1991 Franz Vranitzky tat. "Gerade wir in Österreich müssen wissen, was es heißt, Eigenstaatlichkeit zu verlieren . Und gerade weil wir unsere eigene leidvolle Erfahrung in dieses neue Europa einbringen wollen, gerade weil wir in den letzten Tagen so eindringlich und nachdrücklich daran erinnert werden, was Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit, Freiheit und Menschenrechte für kleine Völker bedeuten, gerade deshalb müssen wir uns auch zu der anderen Seite unserer Geschichte bekennen; zur Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben", zitiert Suppan den anwesenden Alt-Kanzler.
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