Balaton: Wo der Plattensee sich völlig unerwartet präsentiert

Fähre bei Balatonfüred auf dem Plattensee bei Sonnenuntergang
Rund um den Plattensee, Europas größten Binnensee, führen rumpelfreie Radwege durch Lavendelfelder, zu Postkarten-Panoramen und verwunschenen Trödelmärkten.
  • Der Plattensee bietet radfreundliche Routen durch malerische Lavendelfelder.
  • Das Südufer ist bekannt für seine touristische Infrastruktur, während das Nordufer durch unberührte Natur besticht.
  • Der Plattensee spielte eine bedeutende Rolle während der Wendezeit, als viele DDR-Urlauber hier Freiheit und Hoffnung suchten.

Etwas abseits vom Südufer spielt der Plattensee plötzlich Provence: Liebliche Lavendelhügel bei Kőröshegy sind ein beliebter Selfie-Spot und oben auf dem Plateau oft Schauplatz stimmungsvoller Open Air-Konzerte ungarischer Bands.

Lavendel-Felder und Lavendel-Labyrinthe durchradelt und passiert man am Balaton vielerorts – weil der Chemiker Gyula Bittera die violetten Duftsträucher vor etwa hundert Jahren erstmals hier anpflanzte. Fast ebenso lange produzieren Firmen wie „Eau de Tihany“ daraus Parfüm, Öle und Seifen. Lavendel – eine echte Überraschung, mit der man nicht rechnet an Europas größtem Binnensee. Spitzname „Badewanne Europas“: Sie ist meist kaum drei Meter tief, ihr Wasser mal grünlich, mal grau, selten blau.

Lavendelfelder bei Kőröshegy Kőröshegy am Balaton

Plötzlich Provence: In den Lavendelfeldern bei Kőröshegy  wird fleißig fotografiert. Daraus werden dann Seifen, Parfüm und Öl.

Wer am Südufer aus dem kleinen Seglerhafen Fonyód mit einer Jolle auf den Balaton schippert, passiert die übermannshohe Skulptur von Frau und Mann, nackt und Händchen haltend in die Ferne schauend. 1960 geschaffen – ein unfreiwilliges Symbolbild der Sehnsuchts-Blicke, die viele DDR-Urlauber hier gen Westen schweifen ließen – damals, vor dem Mauerfall, als der Plattensee wohl das attraktivste, für Ostdeutsche erreichbare Reiseziel mit südländischem Touch war.

Statue am Balaton

Vom Balaton sahen zu DDR-Zeiten viele sehnsuchtsvoll in den Westen.

Kaum draußen mit der Jolle auf dem See ist Richtung Westen jedoch kein Land in Sicht. Und damit sofort klar: der Balaton-Werbespruch „Ungarisches Meer“ ist nicht übertrieben für den siebenundsiebzig Kilometer langen und bis zu vierzehn Kilometer breiten, von grünen Hügelketten gesäumten See. Seine schönsten Strände, Foto-Panoramen und verträumten Dörfer entdeckt man am besten per „Balatoni Körút“. Dieser Plattensee-Radweg – gut genutzt von Einzelfahrern und Radwander-Gruppen mit üppiger Packtaschen-Fracht – führt zweihundertzehn Kilometer lang einmal herum. Überall gut ausgebaut und beschildert – etwa in Siófok, Hauptort und Partyzone am Balaton: Formel 1-Simulator und Table Dance, Bierschwemmen und Schaumpartys, Thai-Massage und Fake-Tattoo-Shops – die Amüsiermeile auf der Petőfi Promenade wummert. Es riecht nach Pizza, Döner und Lángos – dem ungarischen Fladenbrot mit Käse und Knoblauchcreme.

Große Liebe, großer See

Das Nordufer des Plattensees hingegen ist kein Ort des Massentourismus. Balatonfüred hat am Rand zwar ein paar Hoteltürme, im Zentrum vor allem aber eine schattige Schlenderpromenade mit Mini-Kurpark. Ideal für Patienten der großen Herzklinik ebenso wie für Gäste des mondänen Grand Hotels, das seit zweihundert Jahren den Anna-Ball ausrichtet, Ungarns Pendant des Wiener Opernballs. Auf einer Anhöhe der Halbinsel Tihany thront die Abteikirche und scheint sich indigniert abzuwenden von den Paprika- und Lavendelshops des Ortes. Hinter Tihany schlängeln sich Landstraße und Radrundweg durch weite Panoramen mit Weinhängen, goldgelben Kornfeldern und Streublumenwiesen. Mal verschwindet der Balaton beim Durchfahren einer Senke, dann schimmert er wieder auf, kurz vorm Horizont.

Nirgendwo wird das Bild hier getrübt durch krakenarmige Wasserrutschen, in die Landschaft gepflanzte Ferien-Resorts oder Ortsdurchfahrten, die zum Souvenirshop-Spalier degeneriert sind. Die kleinen, oft nur aus wenigen Straßen bestehenden Balaton-Orte erscheinen im Wortsinne unberührt. Aus der Ferne kündigen sie sich weithin sichtbar bereits durch ihre aus der Landschaft aufragenden, weißen Kirchtürme an – etwa in Balatonudvari.

Auf dem Friedhof daneben stehen vereinzelt herzförmige Grabsteine. Die Legende dazu: Ein Maurer verlor vor mehreren hundert Jahren seine große Liebe – sie ertrank im See. Als Erinnerung meißelte er einen herzförmigen Grabstein. Bis heute werden manche Verstorbene hier so beigesetzt.

herzförmiger grabstein

Hier gibt es viele Grabsteine in Herzform. Sie erinnern an eine alte Legende. 

Selbstgemachtes im Dorf

Am Wegesrand stehen in den Balaton-Dörfern immer wieder kleine Tische mit selbst gemachter Marmelade – etwa in Köveskál. In der Nähe, direkt an der Straße, lohnt sonntags der Markt von Liliomkert (Liliengarten) auf einem verwunschenen Gelände: Hütten und Stände unter Bäumen, deren Äste sich wie Wasserfälle darüber ergießen und Schatten spenden. Es duftet nach Pörks (Fleischeintopf), dazu schmecken Szölöle (Traubensaft) und Fröggs (Weinschorle). „Baron“, ein freundlicher Labrador, stromert herum und hofft auf Leckerlis der Marktbesucher, die sich treiben lassen zwischen Ständen mit Keramik, Filztieren aus Heimarbeit, Flohmarkt-Trödel und Kleidung – schon immer begehrt am Balaton.

Am Wegesrand wird  Marmelade oder Honig verkauft

Am Wegesrand wird  Marmelade oder Honig verkauft.

Der Sommer 1989

DDR-Urlauber sparten während ihrer Urlaube lieber an Essen und Übernachtungskosten, damit Forint übrig blieben für Jeans und T-Shirts auf den sogenannten Pulli-Märkten, wo es auch begehrte West-Musik gab. Ulrich Grunert aus Schwerin, zwischen 1968 und den 1980er-Jahren jeden Sommer am Balaton, erinnert sich, wie er 1969 eine heiß ersehnte Eric Burdon-Platte auf dem Markt stehen lassen musste, weil er kein Geld mehr hatte.

Dennoch ist die Plattensee-Erinnerung für ihn und viele andere wie ein ewiger Traumurlaub, quasi mit lebenslangem Sonnenbrand: „Ostdeutsche tragen das ungarische Meer im Herzen, dass die Mauer gefallen ist, liegt auch am Glanz des Balatons“, erinnert sich Grunert im Zeitzeugen-Interview für das Buch „Deutsche Einheit am Balaton“.

Anreise
Mit der Bahn über Budapest zum See. oebb.at

Übernachten
– Im Rummel und preiswert:   3*-Hotel Lido, DZ 83 €/N., hotel-siofok.com
– Edle und ruhige Alternative in Siofok: Villa Jokai,  DZ ab ca. 110 €/N., jokaivilla.com/en 
– Camping: „Napsugar Club“, napsugarclub.de

210 Kilometer lang  führt der Radweg „Balatoni Körút“ um den See.

Auskunft
visithungary.com 

Dass das Unmögliche möglich, die Grenze sich vielleicht öffnen wird, hoffen im Sommer 1989 viele der zwanzigtausend Ostdeutschen, verzögern ihre Rückreise in die DDR, obwohl sie Campingplätze und Hotels räumen müssen. Etwa zweitausend von ihnen finden in der Nähe des Liliomkert-Marktes Platz im ungarischen Jugendlager Zánka, bejubeln hier am 11. September die Nachricht, dass Ungarn die Grenze zu Österreich geöffnet hat. Spontan feiern Einwohner des Ortes Zánka bei mitgebrachtem Wein mit den Deutschen die Freiheit.

Kommentare