Bernhard Fetz, Leiter des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek, ergänzt das berühmte Doderer-Zitat nach der Herkunft als Schicksal mit einem Zitat von Hannah Arendt, die formulierte, dass mit jedem neuen Menschen die Chance auf einen Neubeginn verbunden sei; dass man sich, unabhängig von den Umständen, unter denen man geboren wurde, wie ein handelndes und in die Welt eingreifendes Wesen sehen könne.
Freiheit, aufzubrechen
Innerhalb dieser Spannweite spielt sich die am Mittwoch im Literaturmuseum eröffnete Ausstellung „Woher wir kommen“ ab. Die Schau, die zugleich auch als Jubiläumsausstellung fungiert (das Literaturmuseum wurde vor zehn Jahren eröffnet), beschäftigt sich mit den verschiedenen Aspekten von Herkunft – die Halt geben oder Bürde sein kann, aber eben nicht Schicksal sein muss. Denn, so eine Perspektive der von Cornelius Mitterer und Kerstin Putz kuratierten Ausstellung: Es gibt da immer noch die Freiheit. Die Freiheit, aufzubrechen und woanders hin zu gehen. Fünf Kapitel zeigen das Spektrum, innerhalb dessen sich Herkunft und Literatur hier verorten lassen: Aufwachsen, Aufbrechen, Zurückkehren, Erinnern und Erfinden. Neben Handschriften, Dokumenten, künstlerischen Arbeiten sowie Film- und Tonbeispielen präsentiert eine „Galerie der Dinge“ persönliche Gegenstände, die Autorinnen und Autoren mit ihrer Herkunft verbinden.
Das ist ja der Richard!
Und das hat durchaus auch Witz. Ein Tennisschläger von Radek Knapp („mein Lieblingsautor ist Rafael Nadal“) oder eine Goldkette mit Krokodil-Medaillon von Barbi Marković sind hier ausgestellt. Die Kette, ursprünglich ein fiktives Objekt aus ihrem Buch „Die verschissene Zeit“, hat Marković später selbst getragen, „um anzugeben“, und nun als Leihgabe zur Verfügung gestellt.
Wie privat, wie „authentisch“ ist diese Ausstellung und was lernt man darin über Literatur? Ziemlich und einiges. Noch vor wenigen Jahren hieß es: Ja niemals den Autor mit seinem Werk verwechseln! Dieser strikte Zugang hat sich aufgeweicht. Und wider besseres Wissen glaubt man als Leser ja selbst oft, dass man eine Familie „kennt“, wenn man über sie gelesen hat. Etwa Monika Helfers Familienbiografie, die mit „Bagage“ begann und in mehreren Romanen vom Aufwachsen in Vorarlberg berichtet. Wer den wunderbaren Band „Löwenherz“ gelesen hat, der empfindet angesichts der hier ausgestellten Fotos unter anderem von Helfers Bruders womöglich so etwas wie: „Da ist ja der Richard!“ – als würde man ihn tatsächlich kennen, nicht nur aus den Büchern seiner Schwester.
Super-8-Filme
Herkunftsgeschichte war immer ein wesentlicher Bestandteil von Literatur. Und dennoch gibt es auch dabei so etwas wie Trends. Etwa jenen der „Autosoziobiografien“, der in den letzten Jahren aus Frankreich in den deutschsprachigen Raum kam und durch Autoren wie Didier Eribon und Annie Ernaux enorm erfolgreich wurde. Von Ernaux sind hier private Super-8-Aufnahmen auf großen Leinwänden zu sehen. Gleich daneben Polaroidfotos aus dem Vorlass von Peter Handke. Sein Buch „Wunschloses Unglück“ (1972) rekonstruiert die Biografie seiner Mutter nach deren Suizid. Es sei eine „Wiederbegegnung mit der eigenen Herkunft aus der Distanz“, liest man in der Ausstellung, die auch rare Familienfotos der Handkes zeigt.
Der älteste Text der Schau stammt aus dem Jahr 1909, geschrieben von der im proletarischen Milieu aufgewachsenen Schriftstellerin und Politikerin Adelheid Popp, die 1919 als erste Frau im österreichischen Parlament sprach. Im selben Raum ist Christine Nöstlinger, hier in einem Video, zu sehen. Auch sie erzählte vom Aufwachsen im Arbeitermilieu und im Gemeindebau: „Kennst de Jasmin vunda Vira-Schdiagn?“
Von Aufbruch und Klassenwechsel berichteten Autoren wie Franz Innerhofer und Gernot Wolfgruber. Aber auch davon, „dass man immer auch etwas verliert, wenn man Herkunft hinter sich lässt“, sagt Kuratorin Putz. Vom Aufbrechen schrieb auch Erich Hackl in seinem sehr persönlichen Text „Dieses Buch gehört meiner Mutter“. Die Lebensgeschichte dieser aus bäuerlichen Verhältnissen im Mühlviertel stammenden Mutter ist hier in Fotos angedeutet.
Versöhnlich
Ein Foto von einem Haus, das nicht mehr steht: Maja Haderlaps Kindheitshaus, daneben der Gamsbarthut ihres Großvaters – samt Partisanenabzeichen. Die Kärntner Slowenin schreibt, ebenso wie der Autor Florjan Lipuš, von schmerzhaften Familienerinnerungen. Fotos, Dokumente und andere Erinnerungen der beiden sind hier nebeneinander ausgestellt.
Nach den Differenzen, die die beiden angesichts der von ihnen gewählten Literatursprache hatten (Lipuš schrieb immer auf Slowenisch, Haderlap wechselte zu Deutsch) hat dieses Seite an Seite etwas Versöhnliches.