Ein Millionenerbe und Kommunist schrieb mit seinem Verlag Literaturgeschichte. Sein Sohn glaubt wie er, dass Bücher die Welt verbessern können. Zu Besuch beim Mailänder Feltrinelli-Verlag
An der Fassade der Fondazione Feltrinelli in Mailand steht in großen Lettern: È in gioco l’avvenire – Die Zukunft steht auf dem Spiel. Man sieht es von Weitem, es geht hier um mehr als „nur“ ums Lesen.
Als Giangiacomo Feltrinelli, Millionenerbe und politischer Aktivist, 1954 seinen Verlag gründete, wollte er die Arbeiterklasse im Kampf gegen den Kapitalismus unterstützen – und mit Büchern die Welt verbessern. Eine Art Mission Statement, die den Verlag heute noch begleitet.
70 Jahre nach seiner Gründung ist Feltrinelli der größte unabhängige Verlag Italiens und er ist dabei, noch größer zu werden. Unter anderem hat die Feltrinelli-Gruppe den spanischen Anagrama-Verlag gekauft. Zum Imperium gehört auch die Fondazione Feltrinelli, die sich als Forschungs- und Kulturstiftung versteht und in einem spektakulären Glas- und Sichtbetonbau inmitten eines umtriebigen Mailänder Geschäftsviertels an der Viale Pasubio untergebracht ist. Hinten hinaus geht es zum Boris-Pasternak-Weg. Ein Hinweis auf jenes Buch, das Feltrinelli zur Legende gemacht hat.
Mit der Veröffentlichung von „Doktor Schiwago“ des sowjetischen Schriftstellers Boris Pasternak hat Feltrinelli Literaturgeschichte geschrieben. Neben dem Verlag baute er auch ein Archiv zur Geschichte der Arbeiterbewegung auf, bevor er in den 1970ern in den politischen Untergrund abdriftete und unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen starb. Fest steht, dass er am 14. März 1972 im Mailänder Vorort Segrate tot an einem Hochspannungsmast aufgefunden wurde. Feltrinelli war nicht nur Verleger, Millionär und Kommunist. Er war auch Exzentriker, Lebemann und soll Linksextremisten nahegestanden sein. Ob er sich bei einem Anschlagsversuch tatsächlich selbst in die Luft sprengte, wie damals schnell behauptet wurde, ist bis heute ungeklärt. Nachzulesen ist diese Geschichte in einer nach Feltrinellis liebster Zigarettenmarke benannten Familienbiografie, „Senior Service“, die Giangiacomos Sohn Carlo aufgezeichnet hat.
Nachzulesen ist diese Familiengeschichte in einer nach Feltrinellis liebster Zigarettenmarke benannten Familienbiografie, „Senior Service“, die Giangiacomos Sohn Carlo aufgezeichnet hat.
Carlo Feltrinelli, 63, leitet seit 1998 das Unternehmen. In seinem Büro im fünften Stock der Fondazione Feltrinelli empfängt er selten Journalisten. Er ist öffentlichkeitsscheu, anders als seine quirlige Mutter Inge, die sich bis zu ihrem Tod 2018 maßgeblich um die Öffentlichkeitsarbeit kümmerte.
Wenn es aber um die Frage geht, ob er an Bücher und ihre soziale Funktion glaubt, wird auch Carlo Feltrinelli gesprächig. „Ich glaube an den Grundgedanken der Aufklärung, der die Basis des Feltrinelli-Verlags ist. Daran, dass sich der Mensch durch die Nutzung seines Verstandes zu einem selbstbestimmten Individuum entwickelt. Natürlich leben wir heute in anderen Zeiten als vor 70 Jahren, als mein Vater den Verlag gegründet hat. Heutzutage ist Lesen per se fast schon ein revolutionärer Akt, weil man gezwungen ist, sich Zeit für sich selbst zu nehmen und sich vom Rundherum abzukoppeln. Doch das Buch bleibt Kulturvermittler schlechthin. Es unterstützt die Menschen dabei, ihren kritischen Geist zu pflegen.“
Gut, ja, so was sagt man eben als Verleger. Aber glaubt Carlo Feltrinelli das wirklich? „Ich bin absolut überzeugt davon. Auch abgesehen davon, dass Bücher machen das Einzige ist, was ich kann. Wie bereits Umberto Eco sagte: So, wie nichts Besseres als eine Gabel zum Essen erfunden wurde, gibt es kein besseres Werkzeug für das Gehirn als Bücher. “
Sechs Stockwerke unter Carlo Feltrinelli treffen wir einen Mann, der ebenso an das Weltbesserungspotenzial von Büchern glaubt wie sein Chef. Vittore Armanni kümmert sich um das bibliografische Erbe im gewaltigen Feltrinelli-Archiv der Fondazione Feltrinelli, das im Untergeschoß des Gebäudes untergebracht ist.
Und er erklärt, was die Fondazione, die sich über mehrere Stockwerke samt öffentlicher Bibliothek, Veranstaltungsraum, Lesesaal, Cafeteria und Buchhandlung erstreckt, eigentlich sein will: Kulturzentrum und Thinktank. Kein Museum, sondern ein Ort, wo so etwas wie Zukunftsforschung zu Themen wie Politik, Arbeit, Wirtschaft und Nachhaltigkeit betrieben wird. Nicht weniger als die großen Fragen der Gegenwart will man hier beantworten.
Vittore Armanni kümmert sich um das bibliografische Erbe im gewaltigen Feltrinelli-Archiv
Mehrere Hunderttausend Bücher sind hier seit der Bibliotheksgründung durch Giangiacomo Feltrinelli gesammelt worden. Man muss dazu sagen: Feltrinelli baute auf nichts auf. Seine schwerreiche Familie war nicht an Literatur interessiert. Die Feltrinellis, die aus der Gegend um den Gardasee stammten, errichteten ihr Vermögen auf Holz, später investierte man in Immobilien. Die Kultur kam erst mit Giangiacomo. Einer seiner Onkel, ist in „Senior Service“ nachzulesen, wusste auch nichts mit dem zu seiner Zeit sehr prominenten Dichter D’Annunzio anzufangen, als dieser einst einen Platz in seinem Zugabteil suchte. Er verweigerte ihm einen Platz.
Giangiacomo Feltrinelli wollte sein Erbe mittels Bibliothek und Archiv zu Quellen der Forschung machen. Auch damit wollte er seine klassenkämpferischen Ziele durchsetzen. Es gehe allerdings nicht darum, ideologisch zu sein, sondern vielmehr darum, überhaupt Stellung zu beziehen, erklärt Dottore Armanni und zitiert den Philosophen Antonio Gramsci: „Ich hasse die Gleichgültigen.“ Stellung beziehen, irgendwie, irgendwann. So hat auch der überzeugte Kommunist Giangiacomo Feltrinellis eindeutig Stellung bezogen, als er sich mit der Erstveröffentlichung von Boris Pasternaks Roman Doktor Schiwago 1957 gegen die Interessen der UdSSR und der Kommunisten durchsetzte, die bei Pasternak bekanntlich nicht gut wegkamen. Die erste Ausgabe, das Original-Manuskript sowie den berühmten Briefwechsel zwischen Feltrinelli und dem Nobelpreisträger wird Signore Armanni später für den Besuch aus dem Tresor holen und schildern, warum die Kommunikation zwischen den beiden stets auf Französisch verlief: Um vor Fälschungen des KGB sicher zu sein. Auch davon gibt es hier schriftliche Erinnerungsstücke, unter anderem ein Telegram, das der russische Geheimdienst angeblich im Namen Pasternaks schrieb. Darin wird mitgeteilt, dass Feltrinelli dringend gebeten wird, das Manuskript zurückzugeben, weil die Arbeit unvollständig sei und vervollständigt werden müsse. Was natürlich frei erfunden war.
Der wichtigste Long-Seller neben „Doktor Schiwago“ ist Giuseppe Tomasi di Lampedusas „Gattopardo“– „Der Leopard“, veröffentlicht 1958. Das Interesse an diesem Romanmonument reißt nicht ab, unlängst erst wurde eine Netflix-Serie dazu gedreht. Ins kollektive Gedächtnis gefunden hat jedoch Luchino Viscontis Verfilmung mit Burt Lancaster aus dem Jahr 1963.
Die erste Ausgabe von Giuseppe Tomasi di Lampedusas „Gattopardo“– „Der Leopard“, veröffentlicht 1958
Apropos Film: Giangiacomo Feltrinelli betätigte sich auch als Produzent, sein letzter Film war Fellinis „Roma“. Auch davon sind hier im Archiv Spuren zu finden.
Ein beträchtlicher Teil der Sammlung besteht natürlich aus politischer Dokumentation. Unzählige Pamphlete, Zeugnisse politischer Propaganda, berühmte Briefwechsel. Sozialismus, Anarchismus, Kommunismus, Neue Linke. Auch dem deutschen Nationalsozialismus sowie dem italienischen Faschismus ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Das ganze politische Spektrum, bis in seine Extreme, Reihe an Reihe. Gleich neben der Marx-Engels-Forschung finden sich Bücher über Jörg Haider. Ein Archiv muss alles dokumentieren.
Aus dem 19. Jahrhundert stammt eine Plakatsammlung mit Originalen der Pariser Kommune. Überhaupt, Frankreich: Ein bedeutender Teil des Archivs ist dem Nachbarland gewidmet, Schwerpunkte sind Französische Revolution und Aufklärung. Ein besonderer Schatz ist die erste Ausgabe der „Encyclopédie“ von Diderot und d’Alembert, einer Art frühem Lexikon, erschienen in Paris zwischen 1751 und 1772.
Vor mehr als sieben Jahrzehnten legte Giangiacomo Feltrinelli den Grundstein für sein Archiv des Wissens. Aus der Überzeugung heraus, dass Bücher die Welt verbessern können. 2024 hat sein Sohn Carlo Feltrinelli eine Buchhandlung in Taranto eröffnet. Eine öde Industrie-Stadt im Süden Italiens, in der das Leben bitter geworden ist, seit die Stahlindustrie auf dem Boden liegt. Er sagt: „Wir wollen den Menschen Hoffnung machen.“