Ein Jahrzehnt ist vergangen, seit 2015 die Flüchtlingskrise Europa und insbesondere Österreich sowie Deutschland in Atem hielt. Die Themen Asyl, Migration und Integration beherrschen bis heute einen großen Teil der politischen Debatten und Wahlkämpfe in beiden Ländern - zuletzt etwa bei der Bundestagswahl im Nachbarstaat.
Der neue deutsche Innenminister Alexander Dobrindt von der bayerischen CSU hat angekündigt, nach Amtsantritt umgehend die Kontrollen an den deutschen Außengrenzen zu verstärken - sodass es vermehrt Zurückweisungen von Migranten geben wird.
"Wir gehen davon aus, dass sich Deutschland bei allen Maßnahmen, die gesetzt werden, an die europäische Rechtsordnung hält", heißt es aus dem Innenministerium in Wien, das klarstellt: "Maßnahmen der deutschen Behörden, die davon abweichen, werden nicht akzeptiert."
10 Jahre Grenzkontrollen bei Kufstein
Was die deutschen Pläne in der Praxis für Österreichheißen, ist vorerst unklar - etwa in Tirol, wo die deutsche Bundespolizei seit Herbst 2015 Kontrollen am Autobahn-Grenzübergang Kufstein/Kiefersfelden durchführt. Kontrollen, die im Schengen-Raum eigentlich nur temporär gestattet sind, aber immer wieder verlängert wurden.
Der am Dienstag erstim zweiten Durchgang zum Kanzler gewählte Friedrich Merz (CDU) hatte im Wahlkampf damit geworben, auch Asylwerbende an der Grenze abweisen zu wollen - mit EU-Recht ist das allerdings nur schwer bis gar nicht vereinbar.
Österreich pocht auf die europäische Rechtsordnung. Und dieser Grundsatz wird bereits seit dem Vorjahr nach einem Urteil des EUGH rigoros gelebt, wie nun KURIER-Recherchen zeigen. Und er führt zu einer absurden Situation im Grenzraum zwischen beiden Ländern, wie ein Blick hinter die Migrationsdaten offenbart.
Österreich hat Rückübernahmen massiv zurückgefahren
Was im Zuge der heißen Debatten über Zurückweisungen an der deutschen Grenze oftmals untergeht: Sie warenüber Jahre hinweg Alltag. Alleine in Tirol, das Teil der sogenannten Mittelmeeroute von Italien nach Deutschland und Nordeuropa ist, hat die Polizei etwa in den Jahren 2020 bis 2023 je rund 1.700 bis 2.400 Rückübernahmen vollzogen.
Das absolute Gros davon entfiel auf Fremde, die von Deutschland "aufgrund von Rückübernahmeabkommen bzw. aufgrund von Einreiseverweigerungen" nach Österreich retour geschickt wurden, wie es in einer Bilanz der Landespolizeidirektion (LPD) Tirol für 2023 heißt.
Was jedoch in der jüngsten Statistik für 2024 auffällt: Nicht nur die Zahl der Aufgriffe zwischen Brenner und Kufstein ist weiter rückläufig und war zuletzt 2012 niedriger als im Vorjahr. Auch die Zahl der Rückübernahmen aus Deutschland ist massiv gesunken bzw. geradezu eingebrochen.
Nur noch 62 Personen übernommen
Wurden 2023 von der Tiroler Polizei noch 2.238 an der deutschen Grenze abgewiesene Personen übernommen, waren es laut der Statistik für 2024 nur noch 62.
Die Inntalautobahn A12 in Tirol bei Kufstein, unmittelbar vor der Grenze zu Bayern bzw. Deutschland
Von der LPD in Tirol wird das auf Anfrage mit einem Ende 2023 ergangenen EUGH-Urteil zu Abschiebungen an europäischen Binnengrenzen erklärt, welches das Grenzregime verändert habe. Bei der deutschen Bundespolizeidirektion Rosenheim, die für die Kontrollen an der Grenze zu Tirol zuständig ist, heißt es dazu aber:
"An unserer Praxis hat sich gar nichts geändert", wie Mediensprecher Rainer Scharf zum KURIER sagt.
Migranten werden in Zug nach Kufstein gesetzt
Personen, die beim illegalen Grenzübertritt erwischt werden und bei denen "kein Schutz- oder Asylgrund vorliegt, setzen wir in Rosenheim in den Zug nach Kufstein", so Scharf. Das treffe jedes Jahr auf 50 bis 60 Prozent der Fällezu. So auch im Vorjahr, wo man rund 1.900 Personen die Einreise verweigert und sie nach Österreich zurückgewiesen habe.
Jede dieser Rückführungen werde den österreichischen Behörden in Tirol vorab gemeldet. Das bestätigt auch das Innenministerium in Wien. 2024 wären von der deutschen Bundespolizei "bei insgesamt 1.824 Fremden Zurückweisungen angekündigt" worden.
Auf Basis der europäischen Rechtsprechung hätte man abernur 62 Fremde "rechtmäßig übernommen". Besagtes EUGH-Urteil hat klargestellt, dass ein EU-Staat bei Kontrollen an Binnengrenzen einen illegal eingereisten Nicht-EU-Bürger nicht unmittelbar abschieben darf.
Wohin geht die Reise der Zurückgeschickten?
Deutschland scheint diese juristische Vorgabe - bei der es noch gar nicht um die Frage von Asylwerbenden geht - schon jetzt zu ignorieren. Aber was passiert mit jenen Menschen, die in Deutschland in Züge nach Österreich gesetzt werden?
"Da diese Personen in Österreich nicht übernommen und auch nur vereinzelt auf österreichischem Staatsgebiet aufgegriffen werden, ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Personen ohne behördliche Übergabe bereits vor der deutsch-österreichischen Grenze den Zug verlässt", glaubt man zumindest im österreichischen Innenministerium.
Das ist freilich nur bei Regionalzügen möglich. Bei internationalen Verbindungen gibt es keinen Stopp zwischen Rosenheim und Kufstein. Nach dem Muster der Tiroler Polizei gehen auch die Landespolizeidirektion in Salzburg und Oberösterreich mit Zurückweisungen aus Deutschland um, heißt es auf Nachfrage.
Die deutschen Debatten über weitere Verschärfungen an den eigenen Grenzen scheinen aber auch abgesehen von diesem kuriosen Gezerre zwischen zwei Nachbarländern aus der Zeit gefallen.
Auf dem Weg zu dem Wert von 2012
Die nun aus dem Amt der deutschen Bundesinnenministerin geschiedene Nancy Faeser (SPD) erwartet für 2025 die geringsten Asylzahlen seit mehr als einem Jahrzehnt.
„Wenn die irreguläre Migration weiter so stark zurückgedrängt wird, wie wir es in den letzten zwei Jahren geschafft haben, dann können die Asylzahlen in Deutschland in diesem Jahr bei etwa 100.000 liegen“, sagte die SPD-Politikerin der Funke-Mediengruppe. Nach Angaben des Innenministeriums lagen die Asylantragszahlen zuletzt 2012 unter 100.000.
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